1970
Das Mädchen aus dem Zug…

1970 CHAPTER 2

Transitvisum

AM NĂ„CHSTEN

MORGEN

→ 2.2 | 2.3

2.1  DAS MĂ„DCHEN AUS DEM ZUG


→ Es sind so viele Jahre vergangen, seit meiner Reise mit dem Orient-Express im August 1970. Zu viele - wenn ich an meine heute grauen Haare denke - aber ohne dass meine Erinnerungen verblasst wären. Denn immer, wenn ich mit dem Zug unterwegs bin und die Melodie vernehme, die eiserne Räder und Schienen zusammen anstimmen, immer dann denke ich an die Begegnung zurück, die meine damalige Reise bestimmen sollte.


Wie es dazu kam – ich darf es wohl heute erzählen – ganz von Anfang an.


Und so hat es begonnen:


Der Orient-Express hatte am frĂĽhen Abend die Grenze zu Jugoslawien passiert und ich hatte das Visum fĂĽr die Durchreise in meinem Pass gedrĂĽckt bekommen. In diesem Augenblick begann fĂĽr mich erst richtig das Abenteuer der Reise.


Es war bereits Abend, und weil mir ohnehin zu heiĂź war in dem Abteil, verlieĂź ich es, um mir etwas Bewegung zu verschaffen und frische Luft an einem der  Zugfenster zu genieĂźen. Es wurde rasch Nacht. Unter den FĂĽĂźen verspĂĽrte ich den Rhythmus, den der Zug fortwährend anstimmte und ich verlor mich in träumerischen Gedanken.


Heute, wo ich beginne diese Zeilen zu schreiben, muss ich an diesen Augenblick zurückdenken. Ich sehe wieder jene anmutige Gestalt, die sich schemenhaft gegen den Nachhimmel abhob, als sie an einem halb offenen Fenster im schwach beleuchteten Gang des dahin ratternden Zuges lehnte. Zuerst war sie mir gar nicht aufgefallen, stand ich doch selbst an einem der Zugfenster und betrachtete die vorbeiziehende nächtliche Landschaft.


Es war hübsch, sie im schwachen Licht der Zugbeleuchtung zu sehen und ich begann, mich für das namenlose Mädchen zu interessierten. Als ich dann wieder mal zu ihr hinüberblickte, sagte die verwirrende junge Dame - "Entschuldigung, sagst du mir, woher du kommst?"


Gänzlich überrascht, fragte ich mich, warum sie – die doch gar keine Dame, sondern eher ein Mädchen meines Alters war – denn Deutsch sprach. Mir schien, dass sie - trotz ihrer pechschwarzen Strähnen um das schön geschnittene Gesicht und der Kohleaugen - leider eine Deutsche war und das nahm zunächst den Zauber der Ferne von meiner Fensternachbarin. Ich hätte mich fast umgedreht, um mich dem angenehmen Melodram der nächtlichen Landschaft und meinen Träumereien weiter hinzugeben. Aber dann antwortete ich, wenn auch etwas zaghaft, dass ich aus Köln käme und in Stuttgart in den aus Paris kommenden Orient-Express zugestiegen wäre.


Da wir an nebeneinander liegenden Fenstern standen, schien das Mädchen die Verwirrung in meinem Gesicht gelesen zu haben, die es verursacht hatte. Sicherlich um mich auch von meiner Neugierde zu erlösen, fragte sie mich dann in bestem Deutsch, ob ich nicht mal versuchen wolle zu erraten, welcher Nationalität sie habe.


Dankbar nahm ich diese Herausforderung an und überlegte, was wohl zutreffen könnte. Aber angesichts der Internationalität des Reisepublikums - ich hatte bekannte, aber auch einige mir unbekannte Sprachen im Zug gehört - schien mir die Lösung nicht einfach. Ich wollte es dennoch versuchen und nannte dann Nationalitäten, die mir am wahrscheinlichsten erschienen: Französin! Nein! Griechin! Nein! Jugoslawin? Stimmte auch nicht!


Jetzt war ich so ziemlich ratlos und das war mir wohl auch wieder anzusehen. Da erklärte sie sich als ein in Deutschland aufgewachsenes türkisches Mädchen. Darüber war ich dann höchst verwundert, denn dieser Nationalität hätte ich sie aufgrund ihres Aussehens und der modernen Kleidung nicht zugeschrieben.


Sie war wohl erstaunt darüber, dass ich alleine reiste, und so fragte mich das Mädchen, welches Reiseziel ich hätte.


Ich dachte zunächst darüber nach, was ich denn bis zu diesem Zeitpunkt geplant hatte. Ja, nach Istanbul mit dem Zug, das war schon klar. Aber wie ich nach Bursa, meinem nahe am Marmarameer und am Fuße des Gebirges Uludag gelegenen eigentlichen Reiseziel gelangen sollte, darüber hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gründlich nachgedacht.


Dies erklärte ich dem Mädchen und, wie ich dann die Stadt Bursa nenne, schaut sie mich freudig überrascht an und meint, dies wäre auch das Ziel ihrer Reise. Dort - eben in Bursa - würden ihr Vater leben und ihre jüngere Schwester. Gemeinsam mit ihrer Mutter wäre sie auf dem Wege dorthin.


Meine erste Reise in wirkliches Ausland und dazu hatten wir ein gemeinsames Reiseziel.  Es erschien mir groĂźartig und mein Gott, mit einemmal fĂĽhlte ich mich in der jugoslawischen Ecke der europäischen Landkarte, bald nahe der bulgarischen und griechischen Grenze, wirklich nicht mehr so fremd und alleine. Es war ein angenehmes GefĂĽhl, dass auch sie zu empfinden schien.


Wie heiĂźt Du eigentlich mit Vornamen? fragte ich. Endlich hatte ich es heraus!

Ayse! - verriet sie mir und ich empfand diesen Namen von ihr so ausgesprochen, als ĂĽberaus angenehm und passend.

Meine Name ist Franz Josef!

Und wie alt bist Du?

Sechzehn!

Ich bin achtzehn!

Zwei Jahre älter als sie, aber das machte mir nichts aus.


Wir unterhielten uns noch über die verschiedensten Dinge, die junge Menschen beschäftigen - über die Schule, meine gerade erst begonnene Bankausbildung und stellten zudem fest, dass wir beide noch studieren wollten.


Ich musste mir gestehen, dass meine Zuneigung zu dem Mädchen wuchs, dessen Augen ebenso dunkel waren wie das Wasser des Flusses, an dem der Zug in dieser Nacht vorbeieilte.


Irgendwann meinte Ayse, dass es angesichts der vorgerückten Stunde höchste Zeit wäre, in unsere Abteile zurückzukehren. Zum Schluss verabredeten wir uns noch für den kommenden Morgen, dann wollte sie mich nämlich ihrer Mutter vorstellen.


Und schon war sie verschwunden und das Zugfenster leer. Ich blieb noch eine Weile stehen, dann ging auch ich im Geschwindeschritt zu meinem Abteil zurĂĽck.